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»Darum will ich von dir das Gute«.
, von Hartmuth Sandtner
Als der jetzige Wirtschafts- und Klimaschutzminister und Vizekanzler Robert Habeck – lange Zeit vor seinem neuen Amt – an seinem Buch »Von hier an anders« schrieb, stand er eines Tages auch im Hamburger Hauptbahnhof und – wie er im Vorwort »In der Wandelhalle« beschreibt – beobachtete über das Geländer gelehnt, das dortige Treiben, als ein älterer Mann an ihm vorbeigeht und ihn anzischt: »Erschießen sollte man dich!« »Dieser Satz riss etwas in mir auf«, schreibt er, und ließ ihn sich fragen: »Wo kommt dieser Hass her? Was repräsentiere ich, dass Menschen phantasieren lässt, mich erschießen zu wollen?« Zu einer anderen Tat schritten dieser Tage in einer Straßenbahn in Berlin drei Männer und drei Frauen und beleidigten rassistisch Dilan Sözeri, eine 17jährige Jugendliche, und verprügelten sie so, dass sie zwei Tage im Krankenhaus liegen musste. Am 10. Februar 2022 berichtete der Freitag in einem Beitrag über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Fall »Renate Künast gegen Hass im Netz«, dass in einer Umfrage von 2021 neunzehn Prozent der Bürgermeister in Deutschland angaben, »schon einmal erwogen zu haben, ihr Amt niederzulegen, aus Angst um sich und ihre Familien.«
Was hat es auf sich mit dem sogenannten »Bösen«, das manchen von uns entgegen springt? Die deutsch-kanadische Rechtspsychologin Julia Shaw kommt am Ende ihres Buches »Böse – Die Psychologie unserer Abgründe« zu der Feststellung: »Es ist an der Zeit, das Böse neu zu denken« und macht dafür ein »komplexes System von Entscheidungen, Einflüssen und sozialen Faktoren« verantwortlich.
Für den Sozialwissenschaftler und früheren langjährigen Gefängnispsychologen Götz Eisenberg ist »Herrschaft abstrakt und anonym geworden«. In seinem Beitrag »Die Wut dreht sich im Kreis« (bit.ly/3uDSkcR) im der Freitag vom 4.2.22, prophezeit er: »Amok und Terror werden die kriminelle Physiognomie des Zeitalters des globalen Kapitalismus prägen.« Und führt dafür viele Gründe an: »[...] die Kapitalisten verschwinden, während die kapitalistische Produktionsweise fortexistiert. Diese wird von smarten Managern repräsentiert, die von Nachhaltigkeit reden, Yoga betreiben und unentwegt lächeln. [...] Drogen- und Alkoholkonsum nehmen zu, immer mehr Menschen greifen regelmäßig zu psychoaktiven Substanzen und regulieren ihre Gefühlszustände pharmakologisch. Die Einsamkeit ist endemisch, die Suizidrate hoch.« Der Soziologe Emile Durkheim, so Eisenberg, sieht letztere als »Seismograf für den Grad an Anomie, der in einer Gesellschaft herrscht. An einem Übermaß an Anomie, das heißt Normunsicherheit und Orientierungsverlust, können Menschen verzweifeln.«
Zu ähnlicher Beurteilung kommt auch Habeck bei seiner Frage »Wo kommt dieser Hass her, und schreibt: »Gemeint ist ja nicht der Mensch in seiner Individualität, sondern das, wofür er oder sie steht.[...] Proteste gegen die Maßnahmen [sind] unter dem Strich ein Verlangen nach Sicherheit, nach einer Ordnung, die nicht so kompliziert und differenziert ist wie unsere moderne Welt. Nach einer Wahrheit, die über den Debatten steht.«
Eisenberg macht für diese Entwicklung »das rasante Tempo gesellschaftlicher Veränderungen« verantwortlich, das die Menschen »die Welt nicht mehr verstehen« läßt. Eisenberg: »Im Grunde ahnen oder spüren die Menschen heute, dass sie überflüssig sind oder es demnächst werden. [...] Bindungslosigkeit ist die sozialpsychologische Signatur des Zeitalters.« Und diese Sicht auf unsere Zeit führt Eisenberg uns sehr anschaulich vor Augen: »Menschen sind gehalten, das ihnen zur Verfügung stehende Geld auszugeben, Serien zu gucken, über ihre Smartphones zu wischen und dabei Daten zu hinterlassen, das ist alles. Das vage Gefühl der Überflüssigkeit ist der Kern der um sich greifenden Indifferenz.« Die aus dieser Haltung der Gleichgültigkeit und Teilnahmslosigkeit rührende Leidenschaft ist für Eisenberg »der Hass – ohne Gegenstand und ohne Bindung an ein Objekt.«
Eisenberg schaut kassandrisch in die Zukunft: »Wenn eine staatliche Ordnung, die wir als Bedingung unseres Lebens vorfinden, Überleben und geschichtliche Errungenschaften nicht mehr zu sichern vermag und von keiner gemeinsamen Idee oder ideellem Interesse getragen und verbunden ist, büßt sie ihre Legitimität ein und wird verfallen.«
Robert Habeck weiß darum und formuliert im Buch: »ein neuer politischer Grundkonsens [muss] begründet werden. Und zwar paradoxerweise – von denen, die bisher vor allem damit beschäftigt waren, sich selbst zu verwirklichen und eher ihr eigenes Ding zu machen, als sich um “die“ Gesellschaft und “den“ Staat zu kümmern.«
Julia Shaw meint, wir müssten lernen, »dass das Böse im Auge des Betrachters liegt«. Denn dann würden wir anfangen, »den Betrachter und die Gesellschaft, in der er lebt, zu hinterfragen.«
Kann das gelingen? Denn »In frühere ruhigere Gewässer«, meint Habeck, «kommen wir vorerst nicht mehr.«
Julia Shaw verweist auf Friedrich Nietzsche: »Alles Böse traue ich dir zu: darum will ich von dir das Gute.«