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Pluralismus statt Uniformität

, von Hartmuth Sandtner

Anlässlich der laufenden Verhandlungen zwischen USA und Russland und um die Situation in der Ukraine haben sich in diesen Tagen der Freitag und das Hamburger Abendblatt in längeren Beiträgen mit dem deutschen Verhältnis zu Russland beschäftigt. Besonders ausführlich widmet sich der seit 1992 in Moskau arbeitende Journalist Ulrich Heyden im der Freitag vom 14. Januar 2022 unter dem Titel »Reich des Bösen« (bit.ly/3AczeLI) der »Dämonisierung der Großmacht im Osten«. Er sieht den Beginn für diese Entwicklung im Jahre 2014, als der Konflikt um die Ukraine offen ausbrach. Seitdem – so Heyden – »verzichten große deutsche Medien darauf, ein Bild vom tatsächlichen Russland zu vermitteln.« Stattdessen zeige man, »wie sehr Russen die westliche Lebensweise schätzen, wie schwer sie „unter Putin leiden“ und wie hart Oppositionelle bestraft werden.« »Deutschland«, schreibt Heyden, »das vielen Russen als ein Muster des Pluralismus galt«, zeige eine »Uniformität ohnegleichen.«

Heyden trägt in seinem Beitrag ganz viele Tatbestände zusammen, die in den gängigen Medien hier keine Erwähnung finden. Er geht detailliert auf die komplexe Problemlage beim Thema »Memorial-Verbot« ein und berichtet, dass beim Verbot der Organisation u.a. auch die Ausstrahlung eines revisionistischen Films eine Rolle gespielt habe. Das Verbot stoße »selbst bei prominenten Russen, die ein gutes Verhältnis zum Kreml haben, auf Kritik«. Die Staatsanwaltschaft sah die Geschichte des 2. Weltkriegs verfälscht und die Sowjetunion als »terroristischer Staat« verunglimpft.

Zum Minsk-Abkommen (zwischen Moskau, Paris und Berlin) verdeutlicht Heyden, dass die Regierung Selenskyj diesen Vertrag, der 2015 Verhandlungen zwischen der Ukraine und den Volksrepubliken Donezk und Lugansk festgeschrieben hat, stattdessen nachverhandeln will, »wozu sich Berlin und Paris ambivalent verhalten […] aber damit – so Heyden – »geschehen lassen, was vertragswidrig ist.« Heyden nennt weitere Fakten: Danach gab es am 26. Oktober 2021 erstmals den Angriff einer ukrainischen Drohne auf eine Stellung der Donezker Streitkräfte. Am 21. Dezember erklärte der russische Verteidigungsminister Sergej Schojgu vor hohen Militärs, 120 US-Berater würden in den Orten Awdejewka und Priasowsk nahe Donezk Stellungen für Angriffshandlungen ukrainischer Soldaten vorbereiten. Und Heyden weiß zu berichten, dass zuletzt […] vom Generalstab bekräftigt wurde, dass man bereit sei, die »gut 800.000 Menschen mit einem russischen Pass in den Regionen Lugansk und Donezk vor einem ukrainischen Angriff zu schützen.«

»Russland«, so Heyden, sei »hundert Mal vielschichtiger […], als dass man seine Politik über einen Präsidenten und dessen Umgebung erklären könnte«. Dazu zählt auch, »dass Russen manchmal Wert darauf legen, wie Anarchisten zu leben« und sich nicht an Regeln halten. Darum glaubten viele Russen, ihr Land brauche eine harte Hand. Die sieht Heyden im Gegensatz zu hiesiger Darstellung nicht bei Putin. Nach wie vor werde Josef Stalin als der erinnert, unter dem es Ordnung und keine Korruption gab.

Für die in Deutschland ohne Gegenwehr aus der Bevölkerung vonstattengehende Dämonisierung Russlands sieht Heyden ursächlich auch die Tatsache, dass bei uns »Pazifismus und Antimilitarismus« seit dem Jugoslawienkrieg von 1999 aus der Mode seien. Stattdessen würden Klimakrise, Pandemie, Rassismus sowie Gender- und Identitätspolitik in der Gesellschaft für bedeutsamer gehalten. Dabei würde eine Friedensbewegung sich heute – so Heydens Vermutung – »gegen immer maßlosere Töne gegenüber Russland verwahren.« Stattdessen sieht er die Tendenz »Wer es wagt, für einen Dialog zu werben, wird […] aus dem „Konsens der Demokraten“ verbannt.«

Gegen diesen Trend wendet sich auch Klaus von Dohnanyi (93) in einem großen Hamburger Abendblatt-Interview am 14.1.2022 über seine am 17.1.2022 erschienene Streitschrift »Nationale Interessen«. »Ich sehe bei Putin keine Radikalisierung«, so der frühere Bundesbildungsminister, Staatsminister im Auswärtigen Amt und Erster Bürgermeister in Hamburg (SPD). Er hält die »derzeitige Strategie [der USA] für nicht durchdacht«. von Dohnanyi: »Die USA haben uns von den Nazis befreit. Das bedeutet aber nicht, dass sich unsere geostrategischen Interessen decken. […] die USA müssten ein zentrales Interesse an einem Ausgleich mit Russland haben. Denn nun rückt Russland […] an die Seite der Volksrepublik China und wird ihr militärischer Alliierter! […] die Nato-Osterweiterung [war] hierfür eine wesentliche Ursache.«

»Man muss nicht gutheißen, was die russische Regierung tut«, so Heyden, »aber zur Kenntnis nehmen, wie zentral die Situation um die Ukraine und deren Bündnisstatus für Russland sind.« In Deutschland dagegen werde so getan, »als genüge es, über Wladimir Putin und den Geheimdienst zu berichten, um über das politische Russland alles gesagt zu haben. Das geht komplett an der Wirklichkeit vorbei.« Es sieht so aus, als spielten bei uns die derzeit beherrschenden Themen Pandemie und Impfzwang paradoxerweise der von Heyden beobachteten »Uniformität« in die Hände. In unserer Gesellschaft, in der sich große Teile in Pro- und Contra-Aktionen energetisch verbrauchen, scheint für das politisch wirklich Notwendige im Sinne Heydens keine Kraft mehr vorhanden. Der Satz von Annalena Baerbock am 18.1.22 in Moskau macht allerdings Hoffnung: »Russland und Deutschland spielen beide eine wichtige Rolle in unserem gemeinsamen europäischen Haus.«

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