Menschen bei uns
»Die Lust am Leben nicht zu verlieren, das ist wichtig.«
, von Christa Möller
Reinbek – Reinhardt Jennerjahn wurde in Ostdeutschland geboren, in Rostock. Trotzdem hat er viel von der Welt gesehen: Als Koch fuhr er für die Hochseefischerei der DDR über die Weltmeere, hat von Finnland über Kanada bis Mosambik, Panama und Brasilien viele Länder bereist. In Lübeck zur Familie seiner Mutter allerdings war er zuletzt als Kind 1952 mit dem Interzonenzug gefahren – es herrschte Kontaktverbot. Dass die Grenze gefallen ist, erfuhr Jennerjahn auf hoher See auf dem Weg nach Glasgow – und konnte es gar nicht glauben. Zurück zu Hause fuhr er per Zug mit Frau und Kindern nach Westdeutschland, um seine Lieblingstante in Lübeck zu besuchen. Dort wartete ein besonderer Überraschungsgast auf ihn: »Meine Großmutter war auch da«, erzählt Jennerjahn mit feuchten Augen. »Ich wusste gar nicht, dass sie noch lebt. Das war meine persönliche Wiedervereinigung.« Vier Wochen später starb die Großmutter.
Während den meisten der 4.500 Beschäftigten nach der Wende gekündigt wurde, zählte der Rostocker Koch zu den glücklichen 350 Mitarbeitern, die nach der Wende ihre Jobs behielten. »Ich hatte das Glück, auf einem der letzten Neubauten zu fahren, das Schiff war so groß wie der Dampfeisbrecher Stettin, der in Övelgönne liegt.« Von Bremerhaven ging es raus, trotz Orkanwarnungen. Das kam häufig vor.« Diesmal war es anders, das Schiff geriet in schwere Unwetter, statt sechs Tage dauerte die Reise nach Kanada zum Fangplatz 21 Tage, »17 Tage im Rettungsanzug. Nachdem ich das überlebt hatte, stand für mich fest, dass ich aufhöre«, sagt Jennerjahn.
Weil er in Rostock keinen neuen Job fand, ging er zunächst nach Büsum und dann nach Hamburg, wo er bei einem Catering-Anbieter arbeitete. 1994 kaufte er mit seiner Frau, einer Physiotherapeutin, eine Praxis in Mümmelmannsberg. »Wir hatten vier Angestellte, ich habe die Praxisführung übernommen«, berichtet der 74-Jährige. Doch mit der Selbstständigkeit wuchs der Stress. Als noch finanzielle Probleme dazukamen, erlitt er einen Hörsturz. »In meinen 20 Jahren Seefahrt war ich zehn Tage krank, mehr nicht«, stellt Jennerjahn fest. Er wartete zwei Wochen, bis er zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt ging, weil das Piepen im Ohr nicht aufhören wollte. Mit der Diagnose Tinnitus muss er seither leben, »jeden Tag, 24 Stunden, 365 Tage.« Denn kein Medikament hilft. »Das war hart. Damit kam ich nicht klar – überhaupt nicht. Kein Arzt konnte mir helfen. Ich habe mich sechs Jahre damit gequält. Bis ich keinen Ausweg mehr wusste.« Er war entschlossen, seinem Leben ein Ende zu setzen. Doch es gab noch einen Besuch in der Praxis, ein neuer Arzt stellte fest: »Tinnitus Grad 4. Meine Ohren waren knöchern zugewachsen.« Es folgte eine Operation, aber »das Pfeifen hörte nicht auf, denn der Tinnitus sitzt im Hörzentrum im Gehirn.«
Wissenschaftlich nachgewiesen sei der Tinnitus nicht lauter als 15 Dezibel. »Alles andere macht unsere Psyche. Sie macht ihn lauter und unerträglich. Stress ist die Hauptursache.« Jennerjahn hatte schon als Kind ständig Mittelohrentzündungen. »Andere kriegen Magenprobleme, mein Schwachpunkt sind die Ohren.« Nach neun Wochen in einer Tinnitus-Klinik mit psychotherapeutischer Behandlung sowie Entspannungsübungen und autogenem Training ging es Reinhardt Jennerjahn besser. »Der Grundgedanke, aus dem Leben zu scheiden, war weg. Ich wusste jetzt, dass man damit leben kann – aber nicht, wie.« Erst in der Klinik hörte er von der Deutschen Tinnitus-Liga in Wuppertal, die Menschen mit Tinnitus, Hyperakusis, Schwerhörigkeit und Morbus Meniére unterstützt. »Es gibt in Deutschland 4,5 Millionen Tinnitus-Betroffene. 11.000 sind in der Tinnitus-Liga.« Nach dem Klinikaufenthalt ging er in eine Selbsthilfegruppe in Hamburg. Später besuchte er einen Kursus bei der Liga, um zu erfahren, wie man eine Gruppe leitet und gründete selbst eine Gruppe. Es folgte das Angebot, Berater bei der Tinnitus-Liga zu werden, wo er inzwischen ehrenamtlich im Vorstand arbeitet.
Längst hat Reinhardt Jennerjahn gelernt, mit dem Tinnitus zu leben. Wie das geht? »Mit Hilfe einer Wahrnehmungsumleitung auf das Schöne. Aber das ist ein lebenslanger Prozess.« Seine Frau, die Kinder und Enkel bedeuten ihm viel. »Es war jedes Mal ein unbeschreibliches Gefühl, wenn ich ein neugeborenes Enkelkind im Arm hatte. Da ist mir klar geworden: »Wenn du die Wahrnehmung wegnimmst vom Tinnitus, dann geht es dir besser.« Nicht zuletzt hilft dabei ein Tapetenwechsel. Mit seiner Frau fährt er gern in Urlaub an Ost- und Nordsee, wo beide die Inseln lieben. »Juist fehlt noch.«
Elf Jahre lang hat er sich ehrenamtlich auf dem Dampfeisbrecher Stettin engagiert und viele Fahrten mitgemacht, die letzte ging zur Hanse Sail nach Rostock. Inzwischen hat der Rentner Knie- und Hüftoperationen sowie einen Blasentumor überstanden. »Ich habe Glück gehabt, ich bin ein Sonntagskind«, freut er sich. Das Ehepaar Jennerjahn ist seit 51 Jahren verheiratet. »Sich in den Arm zu nehmen, zu tun, was beide mögen und die Lust am Leben nicht zu verlieren, das ist wichtig. Und anderen zu helfen, das befriedigt mich«, sagt er mit Blick auf seine syrische Nachbarsfamilie, die er gern unterstützt, etwa bei Behördengängen.«
Nach dem Praxisverkauf arbeitete das Ehepaar, das seit 2004 in Glinde lebt, bis zur Rente in einer Physiotherapeutischen Praxis in Neuschönningstedt. In Reinbek gründete Jennerjahn vor fünf Jahren die Selbsthilfegruppe Tinnischluss. Die 14 Mitglieder kommen nicht nur aus Reinbek, Glinde und Wentorf, sondern nehmen auch eine weitere Anreise in Kauf, etwa aus Schwarzenbek und Henstedt-Ulzburg. »Der jüngste ist 37, der älteste bin ich«, erzählt der Gruppenleiter, der außerdem zwei Seminare für Tinnitus-Betroffene im Krankenhaus St. Adolfstift organisierte. »Da kamen 120 bis 140 Menschen, das war ein großer Erfolg.«
Die Tinnitus-Selbsthilfegruppe trifft sich jeden dritten Freitag im Monat im Haus Altenfriede. Im Moment ist Pause. Nähere Informationen gibt es per eMail an r.jennerjahn45@g-mail.com oder telefonisch unter 040-713 25 20.