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»Was glaubst Du, wer Du bist?«
, von Hartmuth Sandtner
»Wir sind in der Demokratie sehr nah am Kipppunkt. Wenn nicht schon drüber.«, sagt Thüringens Innenminister Georg Meyer in seinem Beitrag »Wir schlafwandeln in ein Desaster« in der süddeutschen vom 27.12.23. »Große Teile der Politik scheinen die Gefahr der rechtsextremen Machtübernahme zu unterschätzen, für die Agitatoren wie Björn Höcke längst planen«, sagt Matthias Quent, Soziologieprofessor am Institut für demokratische Kultur an der Hochschule Magdeburg-Stendal, in seinem Beitrag »Deutschland kippt nach rechts« im Schweizer Internet-Portal republik.ch vom 13.12.23. Am 26. Mai bzw. 9. Juni 2024 finden gemeinsam mit den Europawahlen Kommunalwahlen in 9 Ländern statt. Im September 2024 sind Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg. »Demokratie darf uns nicht müde machen«, fordert die deutsche Nobelpreisträgerin (2009) Herta Müller in ihrer Zürcher Rede am 13.11.23 im Rahmen der Veranstaltung »Democracies under threat« des UBS Center for Economics in Society (Text der Rede: republik.ch vom 20.11.23).
»In der Ukraine«, so Herta Müller, »wird der späte Aufbruch zur Demokratie mit einem bestialischen Krieg bekämpft. In Belarus wurde der Aufbruch zur Demokratie unter der Regie Russlands blutig abgewürgt. Das ist das eine. Und das andere ist: In Polen und Ungarn war der Aufbruch gelungen, bis er geknebelt wurde. Diesmal nicht von außen, sondern von innen. Und sie schaut nach Ostdeutschland: »Das Eingesperrtsein hinter der Mauer, das Gehorchen und Schweigen, die Willkür der Partei und ihrer Stasi – all das wird heute als unbeschwertes Leben verklärt. [...] Ja, die Freiheit ist etwas, das manche brauchen und andere nicht. Und sie ist etwas, wovor manche Angst haben und andere nicht.«
Müller wurde 1953 im Banat, in Nitzkydorf, Rumänien geboren. Die Eltern gehörten der deutschen Minderheit in Rumänien an. 1987 konnte sie nach Deutschland ausreisen. Sie berichtet in ihrer Rede, wie sie an einem Wintertag mit ihrer Mutter im Nachbardorf ein Fuchsfell kaufte, das sie – wie ein Haustier auf dem Fußboden – jahrelang begleitete. Eines Tages war der Schwanz abgeschnitten. Wochen später folgte der rechte hintere Fuß, dann der linke; Monate später die vorderen Füße. »Der Wohnungstür sah man nichts an. Ich sollte wissen, dass mir in meiner Wohnung dasselbe passieren kann wie dem Fuchs. Auch im Büro tauchte jetzt alle paar Tage ein Securitate-Hauptmann auf. Er wollte mich als Spitzel anwerben. Zuerst mit Schmeicheleien. Und als ich mich weigerte, warf er die Blumenvase an die Wand. Sein Abschiedssatz war: Es wird dir noch leidtun. Wir werfen dich ins Wasser.« Müller arbeitete damals in einer Fabrik und übersetzte Betriebsanweisungen für aus Deutschland importierte Maschinen. Dort war sie jetzt ein Staatsfeind und wurde arbeitslos. Bei Verhören wurde sie »parasitäres Element« genannt und mit Gefängnis bedroht.
Als ihre Mutter den verstümmelten Fuchs sah, hatte ihre Mutter auch Angst. »Sie hatte eine doppelte Angst. Angst um mich und Angst vor mir. Diese doppelte Angst ist mir im ganzen Land begegnet.« Herta Müller bekam nie wieder eine feste Anstellung. Gelegentlich hatte sie eine befristete Aushilfsstelle in irgendeiner Schule. Sobald sie die Tür zum lauten Lehrerzimmer eröffnete, »wurde es still wie in einer Kirche. [...] Ich wurde von den anderen Lehrern gemieden. Sie hatten Angst vor dem Staat und sie hatten Angst vor mir. [...] Zum Verwalten der Angst brauchte der Alltag die Korruption. Sie ist die Ökonomie der Unterdrückung, [...] Kaffeebohnen für gute Noten in der Schule, Kasettenrekorder für Prüfungen an der Universität, unverbindliche Sexualität für einen guten Posten.«
»Der Staat schaute zu«, beschreibt Herta Müller, »wie die Moral zwischen den Leuten verschwand. Alle waren irgendwie kriminalisiert. Und wenn dann jemand dem Regime politisch nicht mehr passte, konnte der Geheimdienst die selbstverständliche Alltagskorruption jederzeit zur Straftat erklären. Das hieß dann nicht politische Verfolgung, sondern Diebstahl. So hatte sich nach Jahrzehnten Diktatur alles verdreht. Es gab kein ethisches Fundament mehr. Die Gesellschaft hatte ihren Kompass endgültig verloren. Alles war materiell und moralisch ruiniert, Individuum ein Schimpfwort. Wegen “Nichtanpassung ans Kollektiv“ wurde man sogar entlassen. Wenn der Securist beim Verhör wütend wurde, schrie er: Was glaubst du, wer du bist. Ich sagte: Ich bin ein Mensch wie Sie. Darauf sagte er: Das glaubst du. Wir bestimmen, wer du bist.« –
Wann, wie und durch wen beginnt diese Festlegung? Schon bei zweierlei Maß bei Blockaden? – In einem Leserbrief in der Süddeutschen vom 29.12.23 fragt Rolf Baumann aus Grafing: »Wie kann es sein, dass Straßenblockaden so unterschiedlich geahndet werden? Auf der einen Seite ermittelt die Generalstaatsanwaltschaft München gegen Klimaaktivisten der Letzten Generation wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung und auf der anderen Seite begleitet die Polizei die Traktoren der demonstrierenden Bauern. Auf der einen Seite werden Klimaaktivisten von der Straße geholt und auf der anderen Seite blockieren Bauern Autobahnauffahrten, ohne dass die danebenstehende Polizei die Blockade auflöst.«
Überschreiten wir da schon schleichend den Kipppunkt, von dem Thüringens Innenminister Meyer spricht?