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»Guten Morgen, ihr Mäuse!«

, von Hartmuth Sandtner

Necati Öziri, deutscher Schriftsteller und Dramaturg – 1988 geboren, im Ruhr­gebiet aufgewachsen, heute in Berlin – hat 2023 mit »Vatermal« sein gefeiertes Roman­debüt über das Aufwachsen ohne Vater vorgelegt. In einem Podcast-Interview sagt er, wir schuldeten es der Geschichte, »dass wir uns jeden Morgen als Erstes fragen, was wir tun können, damit sich Deutschland nicht wieder in ein faschistisches Land verwandelt.« »Ich habe zum ersten Mal das Gefühl, dass unser Land den Belastungen nicht mehr gewachsen ist.«, sagt Boris Palmer, Oberbürgermeister von Tübingen, in einem Interview mit dem Hamburger Abendblatt am 30.12.23. »Alte Versäumnisse holen uns brutal ein.« Der in München lebende Schweizer Schriftsteller Jonas Lüscher, lt. Süddeutscher Zeitung vom 8.1.24 »einer der bedeutendsten politischen Intellektuellen des deutschen Sprachraums«, sagt in seinem Beitrag über Judenhass in der Kulturwelt unter der Überschrift »Die schiere Dummheit einiger Parolen beängstigt mich«, »es herrscht Klassenkampf. Es kämpft ihn gegenwärtig allerdings, und zwar mit allen Waffen und aller Gewalt, nur eine Seite: die der Vermögenden. Wir sollten diesen Kampf aufnehmen.«

Während man auf der Regierungsseite zunehmend eine Militarisierung der Sprache beobachten kann, verabschieden sich große Teile der Bevölkerung – Weiblein wie Männlein – mit Mausigsein in die Softness. »Ausgehend von der Gen Z greift die Vermausung um sich«, schreibt Kathrin Holmer in der Süddeutschen vom 31.12.2023. Genderneutral. Jeder, jede, alles ist eine Maus, mausig oder, die Steigerungsform: eine echte Süßmaus. »Maus zu sein ist eine Lebenseinstellung«, steht auf T-Shirts.

»Man muss Stellung beziehen«, sagt der Philosoph Daniel Strassberg am 16.1.2024 in seinem Beitrag »Die Politik der Freundschaft« im schweizer Internetjournal republik.ch. Und da kommt Mausigsein offensichtlich sehr gelegen. »Was lange funktioniert hat«, so Strassberg, »nämlich das politische Geschehen vom privaten Bereich fernzuhalten, wenn man von vornherein wusste, dass die Gräben zu tief waren, ist mit einem Mal keine Option mehr.« Und dann stellt man erschreckt fest, dass der Freundeskreis oder die Familie hinsichtlich Themen wie Israel, Gaza, Putin, Klimakrise, Bauern und Aktivisten-Blockaden ein Spiegelbild der Gesellschaft ist. Hatte man bisher gefühlt eine einigermaßen harmonische Chatgruppe, teilt plötzlich einer mit: »Ich bin dann mal raus!«

»Der Rückzug ins Private ist nachvollziehbar«, sagt Boris Palmer, »weil viele sich den Ärger und die Belehrung durch die politisch Korrekten nicht antun möchten. Sogar Thomas Gottschalk habe sich mit einem Satz von „Wetten, dass …?“ verabschiedet, »der uns aufhorchen lassen sollte.« Er sagte: »Inzwischen rede ich zu Hause anders als im Fernsehen. Bevor hier irgendein verzweifelter Aufnahmeleiter hin- und herrennt und sagt, du hast wieder einen Shitstorm hergelabert, dann sage ich lieber gar nichts mehr.«

»Seit um das Jahr 1800 die Stochastik, die mathematische Lehre von Wahrscheinlichkeiten, entstand, beherrschen Vermessung und statistische Berechnung das Verständnis des Menschen«, weiß Daniel Strassberg. »Der Wert des Individuums hängt von seinem Ort auf der Skala ab, der üblicher­weise Leistung genannt wird. Daraus folgt unmittelbar, dass auch Beziehungen zunehmend der Vermessung und Bewertung unterliegen.« Und »in den Medien und Werbung dominieren die „Woken“ – die Erweckten oder Auserwählten.«, stellt Boris Palmer fest. »Schon die Begriffe zeigen, dass sich manche auf einer höheren Stufe des Bewusstseins wähnen und den Zugang zur Wahrheit haben – und die anderen eben nicht. Und wer es anders sieht, wird zum Ketzer und muss bekehrt werden. Das besonders Bittere: Das passiert in Milieus, die die Basis der offenen, liberalen Gesellschaft waren: bei den Hochgebildeten, den Journalisten, den Universitäten. Ausgerechnet sie schlagen nun dem illiberalen Denken eine Bresche.«

Jonas Lüscher verweist in seinem Beitrag auf das Buch der französischen Philosophin und Psychoanalytikerin Cynthia Fleury über das Ressentiment (die Red.: auf Vorurteilen, Neid, beruhende unbewusste Abneigung) als Problem für die Demokratie, weil »die Bitterkeit verhindert, eine Distanz zum eigenen Ressentiment einzunehmen, es zu reflektieren und zurück ins Handeln zu finden; stattdessen eben ewiges Wiederkäuen. Unsere kapitalistische Wettbewerbsgesellschaft befördert das Ressentiment.«, so Lüscher.

Es kann allerdings sein, dass an den letzten Wochenend-Demons-trationen deutlich wurde, dass in Deutschland – um einen Begriff aufzunehmen, den der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa in der ZEIT vom 11.1.24 vorstellt – eine soziale Energie (vielleicht vergleichbar der Aufbruchstimmung in den Achtundsechzigern?) zu zirkulieren und sich zu entfalten beginnt (Rosa nennt sie »Throughput« und meint damit einen Interaktionsprozess, bei dem Geben und Empfangen zusammenfallen), die einen für die Festigung unserer Demokratie hoffen lässt. »Diese Kraft zu verstehen«, schreibt Rosa, »ist überlebenswichtig für uns alle.«