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»Familien stärken und mehr Kinder aus der Armut holen«
, von Hartmuth Sandtner
»Einigung bei der Kindergrundsicherung« heißt die Headline in der Süddeutschen Zeitung vom 29.8.23. »2025«, also erst in zwei Jahren, »stellt die Bundesregierung 2,4 Milliarden € als Hilfen bereit.« Notwendig wären 20 Milliarden pro Jahr. Im Klartext heißt das: Die Regierung hat sich mehr oder weniger auf eine Verhöhnung der von Armut betroffenen Kinder geeinigt. Was macht das mit mir, mit Dir, mit Ihnen? Was macht das mit Ihnen, die Sie hier in der Kommunalpolitik tätig sind? Spüren Sie Freude, Genugtuung oder Wut, je nach Farbe Ihrer Partei? Und was machen Sie mit diesen Gefühlen? Schreiben Sie entsprechende eMails an Herrn Lindner, an Herrn Scholz, Frau Baerbock oder Herrn Habeck? Glauben Sie, unsere Almosen-und Tafel-Ökonomie, unser neoliberaler Charity-Kult der Lions, Rotarys oder wie die Organisationen sonst noch heißen mögen, reicht? Sind Sie der Meinung, dass es genügt, wie Carolin und Christoph Butterwegge in ihrem Buch »Kinder der Ungleichheit« notieren, dass »Arme erhalten, was die normalen Kunden im Supermarkt wegen lebensmittelhygienischer Vorschriften nicht mehr kaufen dürfen«? Oder, »dass die Vermögenden nach eigenem Gusto entscheiden können, wie sie ihre Millionen und Milliarden einsetzen – ohne demokratische Kontrolle? Oder, dass sie durch »steuerlich begünstigtes Stiften […] die Gesellschaft in eine ihren Besitzinteressen entsprechende Richtung lenken […] und gleichzeitig an moralischem Ansehen gewinnen«?
Der Ungleichheitsforscher Prof. Dr. Christoph Butterwegge kritisiert im der Freitag vom 28.8.23 das Einigungspapier der Regierung als »Schrumpfversion« und schreibt: »über die Kindergrundsicherung gibt es immer noch keinen Gesetzentwurf, sondern nur ein neues Eckpunktepapier. Familienarmut lässt sich damit nicht bekämpfen«. Über drei Millionen junge Menschen unter 18 Jahren sind davon betroffen. Butterwegge sieht »einen Rekordstand im vereinten Deutschland«. Für die Vorsitzende der Linksfraktion in Sachsen-Anhalt, Eva von Angern, ist die jetzige Einigung der Ampel-Koalition »faktischer Wahlbetrug und für Millionen von Familien ein Schlag ins Gesicht.«
»Wir wollen Familien stärken und mehr Kinder aus der Armut holen. Dafür führen wir eine Kindergrundsicherung ein.« So heißt es im am 7. Dezember 2021 geschlossenen Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP. Als Familienministerin Lisa Paus (Bündnis 90/Die Grünen) ihre Eckpunkte für einen Gesetzentwurf vorlegte und die Kosten mit jährlich 12 Milliarden Euro veranschlagte, erklärte Finanzminister Christian Lindner (FDP) ein solches Projekt wegen zu hoher Kosten für nicht realisierbar.
Realisierbar dagegen ist, so Butterwegge, »das von Lindner ins Bundeskabinett eingebrachte „Wachstumschancengesetz“, mit 50 Steuererleichterungen für Unternehmen im Volumen von 6,5 Milliarden Euro«, [...] inklusive »Steuergeschenke für Personen mit einem Jahreseinkommen bis zu 10 Millionen Euro (für Verheiratete sogar bis zu 20 Millionen Euro)«.
Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, bezeichnet in der DIE ZEIT v. 25.8.23 die Behauptung, der Staat könne sich eine Kindergrundsicherung zur Bekämpfung von Kinderarmut finanziell nicht leisten als Mythos. »Kinderarmut [...] nimmt vielen jungen Menschen die Zukunftsperspektive. Dieser Schaden für die von Armut betroffenen Menschen verursacht auch einen enormen Schaden für die Gesellschaft. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) schätzt die jährlichen Kosten der Kinderarmut in Deutschland auf mehr als 100 Milliarden Euro. Eine auskömmliche Kindergrundsicherung, die die Kinderarmut zu einem großen Teil beseitigen würde, würde etwas mehr als 20 Milliarden Euro pro Jahr kosten.« Zudem bedeute Armut [...] konkret eine geringe soziale, politische und wirtschaftliche Teilhabe.« Kinderarmut, so Fratzscher weiter, »führt zu einer deutlich höheren Wahrscheinlichkeit von Arbeitslosigkeit, Abhängigkeit vom Sozialsystem, weniger Lebenszufriedenheit und einer schlechteren Gesundheit. [...] Der Staat muss für viele Kinder, die heute in Armut leben, ihr Leben lang deutlich höhere Sozialausgaben tätigen. Unternehmen entgehen zudem Fachkräfte.«
Carolin und Christoph Butterwegge bilanzieren in ihrem Buch eine düstere Sicht auf unsere Gesellschaft: »Während Kinder aus wohlhabenden, reichen und hyperreichen Familien materielle Sicherheit genießen und eine Führungsposition in der globalisierten Wirtschaftswelt erreichen können, bleiben diese Chancen den Gleichaltrigen aus sozial benachteiligten Familien versagt. … wenn ein Großteil der »Generation Corona« abgehängt wird, geht es mit der ganzen Gesellschaft bergab.«
– »Lasst uns Hoffen lernen«, fordern Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek und Liedermacher Konstantin Wecker in ihrem zweiseitigen Aufruf zum Antikriegstag am 1. September im der Freitag v. 31.8.23 und zitieren dabei Gedanken des 2020 verstorbenen US-amerikanischen Kulturanthropologen und selbsternannten »Anarchisten« David Graeber (»Bullshit-Jobs«), die auch in diesen Zusammenhang passen: »Es ist unsere Verantwortung, als Intellektuelle oder einfach als nachdenkliche Menschen zu versuchen, zumindest zu überlegen, wie etwas Besseres aussehen könnte. Und wenn es Leute gibt, die tatsächlich versuchen, etwas Besseres zu schaffen, liegt es in unserer Verantwortung, ihnen dabei zu helfen.«