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»Und wann hört das alles auf?«

, von Hartmuth Sandtner

»Helmut Schmidt war ein leidenschaftlicher Verfechter von Kompromissen«, schreibt Carsten Brosda, Hamburger Senator für Kultur und Medien, in seinem Buch »Die Kunst der Demokratie«. Auch für die Bloggerin und Journalistin Yasmine M‘Barek (»Radikale Kompromisse«) ist das höchste Gut der Demokratie der Kompromiss, »aus ihm speist sich all das, was unser System eigentlich so stark macht«. Doch heute tendiert der Zeitgeist nicht nur in Deutschland dazu, »gegen den Kompromiss zu sein«, beobachtet Volker M. Heins, Sozialwissenschaftler am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung der Uni Bielefeld und Autor von »Offene Grenzen für alle: Eine notwendige Utopie«. »Dabei lassen sich«, so Heins in seinem Essay »Eine Verteidigung des Kompromisses« im Internet-Magazin republik.ch, »funda-
mentale Konflikte so gut wie nie ohne Kompromisse lösen.

Oft sind die jedoch »faul« – »das prägt auch die Debatte um den Krieg gegen die Ukraine«, so Heins. Dazu zitiert er Winston Churchills leidenschaftlichen Aufruf zum kompromisslosen Kampf gegen Nazideutschland, »geäußert während einer Rede am 29. Oktober 1941 an seiner alten Schule in Harrow [...]: »Never give in, never give in, never, never, never, never-in nothing, great or small, large or petty.« Faule Kompromisse erkennt man daran, so die Philosophin Véronique Zanetti von der Universität Bielefeld in ihrem Buch »Spielarten des Kompromisses«, dass sie wissentlich »Dritte ohne ihre Zustimmung oder ihre Beteiligung schwer benachteiligen«.

So hat das Wort »Kompromiss«- einen schlechten Ruf. Das musste im Februar auch Jürgen Habermas erfahren, der in seinem Essay »Ein Plädoyer für Verhandlungen« anregte, »nach einer Kompromisslösung zu suchen«. Heins: »Damit plädiert er für etwas, was in Thinktanks oder in den großen außenpolitischen Zeitschriften der USA ohnehin längst stattfindet.« Und in einer multipolaren Welt mit multiethnischen Gesellschaften wird es immer häufiger notwendig sein, Kompromisse zu suchen. Heins: »Eine zweitbeste Lösung angesichts der unmöglichen Verwirklichung der besten Lösung.«

Carsten Brosda zitiert die beiden Harvard-Politologen Steven Levitsky und Daniel Ziblatt aus ihrem 2018 erschienenen Buch »Wie Demokratien sterben«: »Demokratien […] geraten […] in Gefahr, weil das gesellschaftliche Gespräch versiegt und der Wille und die Fähigkeit zur Verständigung fehlen.« Die Historikerin und Soziologin Sandra Kostner (»Ukraine Krieg. Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht“) betont (im der Freitag, 4.5.23: »Moskau aus den Armen Pekings lösen«): »Es ist nie der falsche Zeitpunkt für Diplomatie. Dies ist eine reine Schutzbehauptung, um zu rechtfertigen, dass man nicht willens ist zu verhandeln [...] und zumindest bis zu einem gewissen Grad Zugeständnisse zu machen.« Doch so Kostner: »Bringt jemand politisch inopportune Perspektiven ein, findet er kaum Zugänge in den Leitmedien.«

Dabei sind »Kompromisse«, so Heins, »prinzipiell immer dann möglich, wenn das Streitobjekt teilbar ist« und könnten »auch für staatliche Territorien gelten«, es sei denn, man würde wie Daniel Cohn-Bendit und Claus Leggewie in einer Replik auf Habermas der Meinung sein, die Ukraine sei »undenkbar als amputierte Nation«. Oder wie Michail Gorbatschow und die Literatur-nobelpreisträger Joseph Brodsky und Alexander Solschenizyn, die sich nach der Ausrufung der Unabhängigkeit der Ukraine im August 1991 zutiefst geschockt zeigten. Heins: »Für sie war die russische Nation ohne Ukrainer unvollständig.«

Die Idee, dass nationale Territorien unvollständig oder amputiert seien, wenn ein Teil von ihnen wegbricht, hält Heins für »brandgefährlich. Es gibt keine natürlichen Grenzen eines Staates. Alle Grenzen sind ausgedacht und Menschenwerk. Tatsächlich sind sie auch in Europa immer wieder verändert und durch Plebiszite legitimiert worden. […] Wer will im Ernst behaupten, dass Dänemark eine amputierte Nation sei, nur weil es nach dem Deutsch-Dänischen Krieg 1864 die Herzogtümer Schleswig und Holstein verloren hat?« Zanetti zeigt am Beispiel der süd-afrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission, »dass gute, wünschenswerte Kompromisse nicht einmal in jedem Fall fair sein müssen. Unter bestimmten Umständen kann es geboten sein, zum Beispiel Polizisten oder Widerstandskämpferinnen, die für Verbrechen verantwortlich sind, straffrei ausgehen zu lassen. Wenn die Alternative ein endloser Krieg ist oder der Kollaps der Gesellschaft.« Schon Churchill hatte damals einschränkend gesagt: »Gebt niemals nach – except to convictions of honour and good sense«, »außer den Überzeugungen von Ehre und Vernunft.«

Für die Praxis, aus Vernunft den Krieg mit einem Kompromiss enden zu lassen, verweist Heins auf Beispiele aus der Geschichte: Die USA haben der Teilung Koreas ebenso zugestimmt wie der Teilung Deutschlands. Sie haben mit der Sowjetunion die Kuba-Krise durch einen Kompromiss entschärft und tun heute einiges dafür, den Streit mit China auf einen Handelskrieg zu beschränken. Heins: »Appeasement kann angesichts dieser Lage eine vorausschauende und kluge Strategie sein« auch wenn die unmittelbar in einen Krieg verwickelten Parteien und das Medienpublikum das anders sehen mögen. Heins: »Aber der Soldat Nikolai Rostow in Tolstois “Krieg und Frieden“ [denkt] vor allem eines: “Und wann hört das alles auf?“«