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Unsere Werte

, von Hartmuth Sandtner

In einer Zeit der vollen Auftragsbücher bei der deutschen Waffenindustrie, in einer Zeit, in der das deutsche außenpolitische Handeln einer Militärlogik zu folgen scheint, in einer Zeit, in der über die Gründe zunehmender Aggressionen überwiegend junger Menschen gegen Rettungsdienste, Feuerwehren und Polizei debattiert wird, warnt der Journalist und Schriftsteller Christian Baron vor einem neuen Heroismus. »Sollte jemals irgendwer einen Angriffskrieg gegen Deutschland starten, dann werde ich »mein Land« nicht verteidigen. Stattdessen werde ich alles tun, um an einen sicheren Ort zu gelangen. Falls es dann in meiner Macht stehen sollte, werde ich möglichst vielen Menschen helfen, die dem ebenfalls entkommen wollen. Erst recht dann, wenn die Bundesregierung [wie die Ukraine] wehrfähigen deutschen Männern zwischen 18 und 60 Jahren die Flucht verbieten würde.« So beginnt der Beitrag von Christian Baron im der Freitag vom 5.1.2023, überschrieben mit »Lob der Schwäche«.

Baron sieht das Jahr 2022 als ein Jahr des »Rückfalls in ein heroisches Zeitalter«. Für ihn haben diese Entwicklung jene herbeigeführt, die zuvor intensiv dafür geworben hatten, »dass als Schwächen konnotierte Eigenschaften große Stärken sind, weil sie zu einer menschenfreundlicheren Welt beitragen.«

Das ist nun vorbei, notiert Baron, und erinnert sich an seine Zeit der Berufsfindung, als ihn 2003 der Karriereberater des Militärs beinahe in die Offizierslaufbahn und nach Afghanistan gelockt hätte, wenn er nicht rechtzeitig vor seiner Entscheidung eine Inszenierung von Bertolt Brechts »Mutter Courage und ihre Kinder« am Theater gesehen hätte. Baron: »Ich wäre bald in der Hölle von Kabul gelandet. Denn als Kanonenfutter an der Front eines jeden Krieges enden nicht die Sprösslinge derer, die diese Kriege befehlen, sondern fast immer die Habenichtse.« Und Baron nennt als Beispiel dafür »Einen, der 2022 besonders laut nach militärischer Stärke rief: Andrij Melnyk, der ehemalige ukrainische Botschafter in Deutschland.« Wer Verständnis aufbringt für ukrainische Deserteure, den beschimpft er bei Twitter. »Sein 20-jähriger Sohn jedoch kämpft nicht an der Front, sondern studiert in Berlin.« Für Baron Beweis dafür, dass es »auch in Osteuropa der »Pöbel« [ist], der nach Meinung der Mächtigen die Freiheit verteidigen soll.« Aber »wessen Freiheit?« fragt Baron.

Wer eingesteht, sich vor einem Atomkrieg zu fürchten, wenn die NATO den Krieg in der Ukraine weiter eskaliert anstatt zu deeskalieren, muss sich in den Medien – wie als Beweis für die von dem Philosophen Richard David Precht und dem Sozialpsychologen Harald Welzer in ihrem Buch »Die vierte Gewalt« formulierte Medienkritik – als »erbärmlicher Loser« (Melnyk), »Unterwerfungspazifist« (Ralf Fücks), »Lumpenpazifist« (Sascha Lobo) oder »Superpazifist« (Jagoda Marinič) in den verschiedensten  Medien verlachen lassen.

Dabei: »Was Krieg jenseits aller abstrakten Militärstrategiedebatten und jenseits aller Hinweise auf »die gerechte Sache« wirklich anrichtet mit Menschen auf allen Seiten«, schreibt Baron, »zeigt kein Roman der deutschsprachigen Literatur [...] erschütternder als »Im Westen nichts Neues« von Erich Maria Remarque.

Wie Krieg die Menschen erkalten lässt und ihre einst so hochgelobte »Sensibilität für Menschen« abgetötet hat, wird auch deutlich, wenn man sieht, wie emotionslos, geradezu buchhalterisch, hier bei uns über das regelrechte »Schlachtfest« mit den über 400 jungen russischen Soldaten berichtet wird, die einem Raketenangriff der ukrainischen Truppen zum Opfer fielen, weil sie unwissend ihren Festort durch ihre Handykontakte mit ihren Familien für den Gegner als lohnendes Ziel offenbart hatten.

Für »unsere Werte« kämpfen, heißt es in der Militärlogik, bis die Gegenseite kapitulieren muss« – den 18-jährigen Christian Baron hätte diese Logik 2003 beinahe ins Verderben gelockt.

In einer Zeile seines Gedichts »Der Krieg wie«, beschreibt Hans Magnus Enzensbergers bildhafte Sprache die »verschwommene« Basis, auf der unsere Gesellschaft ruht:

»Er breitet sich aus

wie die Lache hinter dem Schlachthof.«

Denn in dieser Brühe gedeihen offensichtlich auch solche toxischen Heroen wie Pilze, wie wir sie beispielsweise jetzt zunehmend in Silvesternächten und bei vielen anderen Gelegenheit registrieren.

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