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»völlig bekloppt«

, von Hartmuth Sandtner

Wer mit so einer Stammtischdiagnose belegt wird, ist »nicht ganz richtig in der Birne«, notiert Kester Schlenz in seinem Buch  »Ich bin bekloppt – Mein Weg aus der Psychokrise« eine ganze Reihe von Zuschreibungen: Dieser Mensch hat »Einen an der Waffel«, oder ist »bescheuert«, »plemplem«, »behämmert«, »meschugge«, »gaga«, »verdreht«, »durchgeknallt«, »närrisch«, »wunderlich«, »beknackt«. Diese Sammlung von Schlenz ist ein Beispiel für die Vielfalt der Synonyme in Volkes Sprache von »psychisch krank«. Mit dem einen oder anderen werden jetzt – von unserem Bundeskanzler befeuert – die Aktivisten der »Letzten Generation« (https://letztegeneration.org/mitmachen/), belegt – meist junge Leute, die mit großer existentieller Besorgnis dem Zustand unseres Planeten in ihrer Zukunft entgegensehen. Vor Schülerinnen und Schülern in Kleinmachnow (Potsdam-Mittelmark) sagte Scholz am 22.5.23: »Ich finde das völlig bekloppt, sich irgendwie an ein Bild festzukleben oder auf der Straße.«

Wo eine politische und gesellschaftliche Diskussion über den Inhalt der Proteste sinnvoll wäre, wird pathologisiert oder – wie Rahel Jaeggi im der Freitag in seinem Beitrag »Radikal ist nur die Situation« vom 1.6. beschreibt – »reagiert mit Kriminalisierung, […] als Versuch einer juristischen Lösung für gesellschaftliche Probleme.«

Oder es wird eine neue Erzählung implementiert:  Anpassung an den Klimawandel, nach der Devise »Habt euch nicht so!« wie Georg Seeßlen im der Freitag vom 25.5.23 darlegt: »Anpassung ist der neue Trend in der Klima-Erzählung.  […] Da wir nicht genau wissen, was geschieht, können wir ebenso gut auch nichts tun. Schlimmer gesagt: weiter das tun, was wir schon immer getan haben.« Dabei ist das Unangenehme der Katastrophe ihre Unberechenbarkeit. Seeßlen: »Es gibt Menschen, Ideen und Kulturen, denen eine sichere Apokalypse immer noch lieber ist als ein Zustand der chaotischen Offenheit. Ebenso aber gibt es auch Menschen, Ideen und Kulturen, die gerade aus der Unberechenbarkeit das Apokalyptische verbannen.«

Die Ausgangsposition für jeden Diskurs zur Klimaveränderung ist für Seeßlen leicht beschrieben: »1. Die Katastrophe wäre nur abzuwenden, wenn wir radikale Maßnahmen ergreifen würden. 2. Das ist unmöglich, weil es a) wir gar nicht gibt und b) die Folgen womöglich unberechenbarer wären als der Anlass. [...] Was wir (also ein Durcheinander von Wirs und Ichs und Interessen, Zwängen und Fantasien) brauchen, ist somit keine Lösung des Problems, sondern eine neue Erzählung, und das Zauberwort darin heißt: Anpassung

Seeßlen hat fünf gesellschaftliche Gruppen ausgemacht:

  1. Die Leugner (Motto: Klimaveränderungen auf einem Planeten hat es schon immer gegeben) und Ignoranten.
  2. Das genaue Gegenteil: Die Klimaaktivisten
  3. Die Solutionisten: Die Technik wird die Katastrophe bannen.
  4. Die Moralisten: Sie brauchen Katastrophen, da sie Bestätigungen ihrer Haltung und also ihrer Überlegenheit sind.
  5. Mainstream, die große Mehrheit der Relativisten: Man muss »alle mitnehmen«, soziale Verwerfungen vermeiden, und überhaupt soll nichts übertrieben werden.

In dieser Situation – stellt Elia Blülle fest in seinem Beitrag vom 23.5.23 unter dem Titel »Das schädlichste Denk-verbot in der Klima-debatte? Das Verbot« im Schweizer Internetmagazin republik.ch –  haben sich »aus Furcht vor kurzfristigem Konflikt […] so gut wie alle Parlamente und Regierungen für So-tun-als-ob-Lösungen entschieden: ungenügende, aber komplexe Regulierung plus Ziele, an die sie selbst nicht glauben.« Dazu zitiert er den stellvertretenden Chefredakteur der «DIE ZEIT», Bernd Ulrich, der auf Twitter kürzlich schrieb: »Wenn der Staat uns heute nicht vorschreiben darf, wie wir heizen, dann muss er uns sehr bald vorschreiben, wann wir den Wasserhahn aufdrehen dürfen und wann nicht.« Die bisherige Politik, so Elia Blülle, »setzt fast kindlich auf Hoffnung. Die Hoffnung, dass eines Tages eine Wunder-technologie erfunden wird, die uns von allen Problemen erlöst.« Dabei gibt es für Blülle zur Katastrophen-vermeidung »eine sehr einfache Lösung: den Verzicht auf fossile Energie.« Dazu gilt: »Ohne Regeln kein Markt. Ohne Staat kein Markt.« Blülle: »Es ist peinlich, das schreiben zu müssen. Und ebenfalls – eigentlich selbst-verständlich – gilt: Verbote sind zutiefst liberal, wenn sie verbieten, was unser aller Freiheit zerstört. Alles andere ist unliberaler Kitsch.«

Regieren bedeutet – so Georg Seeßlen – »angesichts all dessen, die auseinanderstrebenden Fraktionen irgendwie auszubalancieren. Anpassung als Generallinie, begleitet von regionalen und möglichst „netten“ Gesten (Bäume pflanzen, Bäche säubern statt Klebe-Aktionen, Grillwürste aus Soja, Designerhäuschen mit klimaneutralen Baustoffen) und retromanischem Progressismus: Zurück zur Atomenergie, und irgendwas mit Wasserstoff wird dann schon kommen.  »Was daraus entsteht«, bringt Seeßlen eindrucksstark auf den Punkt: »wird zunächst als Chaos empfunden, wofür es kein treffenderes Bild gibt als eine „Ampel-Koalition“ – das heißt, ein regierungsförmiges Signalsystem, in dem die Lichter für Weiterfahren, Anhalten und Obachtgeben gleichzeitig aufleuchten.«

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